In der Pflege werden die Probleme Deutschlands wie unter einem Brennglas sichtbar. In wohl keiner anderen Branche werden so dringend Arbeitskräfte benötigt wie dort und das in einer gleichzeitig älter werdenden Gesellschaft. Bis 2035 wird die Zahl der Pflegebedürftigen nach offiziellen Schätzungen auf mindestens 5,6 Millionen Menschen klettern. Darauf ist das Pflege- und Gesundheitssystem nicht vorbereitet. Im Gegenteil: Seit Jahren steigen die Kosten, die von den Pflegenden bezahlt werden müssen, kontinuierlich an. Pflege bei Krankheit und im Alter wird daher zum Luxusgut.
Menschen sollten so lange wie möglich zu Hause versorgt und pflegende Angehörige entlastet werden. Diese Kernaussagen beinhaltet der Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Doch in der Praxis ist das Gegenteil passiert. Pflegebedürftige erhielten Briefe mit Kostenerhöhungen der Pflegedienste, die nicht selten 20 bis 30 Prozent betragen. So müssen die zu Pflegenden die Tariflohnerhöhungen, höhere Kosten durch Inflation und andere Umlagen allein schultern. Viele mussten auf Leistungen verzichten und den Pflegedienst ganz kündigen.
Ende Mai dieses Jahres beschloss der Bundestag eine Pflegereform, die nicht einmal ansatzweise die Versprechen aus dem Koalitionsvertrag umsetzt. So wird ab dem kommenden Jahr das Pflegegeld um fünf Prozent erhöht. Das ist nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein. 2015 wurden 30 Prozent der Pflegebedürftigen stationär in Heimen betreut. Heute sind es nur noch 16 Prozent bei zunehmender Pflegebedürftigkeit in der Gesellschaft. Nur noch 20 Prozent der Pflegebedürftigen nehmen einen ambulanten Dienst in Anspruch. Die Pflege übernehmen dann meist Angehörige, die ihre Erwerbstätigkeit aufgeben oder die Arbeitszeit, wenn möglich, reduzieren. Aber für sie gibt es so gut wie keine Unterstützung. Es gibt keinen Lohnausgleich. 70 Prozent aller Pflegebedürftigen werden von Frauen gepflegt. Für viele bedeutet dies den Weg in die Altersarmut. Es gibt zwar anteilig Rentenpunkte, doch diese sind gering.
Auch die von der Politik angepriesene Kurzzeitpflege für bis zu acht Wochen pro Jahr gibt es in der Realität kaum: Es rechnet sich für die Pflegeheime nicht. Nur rund 0,5 Prozent aller Pflegeplätze sind Kurzzeitpflegeplätze. Wenn pflegende Angehörige dringend Urlaub brauchen, bekommen sie keine Entlastung. Doch in den Heimen sind die Kosten in den vergangenen Jahren in die Höhe geschossen, trotz der 2022 eingeführten Entlastungszuschlägen, die mit der Pflegedauer steigen. Auch bei stationärer Pflege werden die gestiegenen Tariflöhne, höhere Kosten für Energie und Verpflegung auf die Pflegebedürftigen umgelegt. Die Pflegekasse übernimmt entsprechend dem Pflegegrad einen monatlichen Zuschuss.
Wie schnell Pflegeheime zur Armutsfalle werden, zeigt eine Studie im Auftrag der DAK-Krankenkasse. Trotz Rentenerhöhungen sind immer mehr Pflegebedürftige auf Sozialhilfe angewiesen. Im Jahr 2022 waren es knapp ein Drittel, bis 2026 rechnet man mit mindestens 36 Prozent.
Auch die 1995 eingeführte Pflegeversicherung steht auf wackligen Füssen. Die Beiträge werden von Arbeitnehmern und Arbeitgebern entrichtet. 2022 betrug das Defizit 2,25 Milliarden Euro. Für das laufende Jahr wird ein Fehlbetrag von 3 Milliarden Euro erwartet. Zum 1. Juli dieses Jahres wurden die Beiträge von 3,05 Prozent auf 3,4 Prozent angehoben, für Kinderlose auf 4,0 Prozent. Das ist allenfalls ein Herumdoktern am System und bringt keine langfristige finanzielle Stabilität.
In den skandinavischen Ländern, aber auch in den Niederlanden, ist Pflege eine öffentliche Aufgabe, die auch zu annähernd 100 Prozent öffentlich finanziert wird. Die Kommunen sind in der Pflicht, die Pflege zu organisieren und zu steuern; sie sind auch größtenteils für die Erbringung der Pflege zuständig. Das bedeutet, dass der Staat im Schnitt zwei- bis dreimal so viel Geld in die Pflege steckt wie bei uns.
In Skandinavien hat jeder Bürger gegenüber der Kommune das Recht auf die Unterstützungsdienste, die er benötigt, um ein hohes Maß an Selbstständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe zu behalten. Die Familien haben weder rechtlich noch moralisch die Verpflichtung, die Pflege zu übernehmen. Es gibt auch keine Versicherung.
Ein hoch bürokratisches Einstufungsverfahren mit mehreren Pflegegraden wie in Deutschland kennt man nicht. Die skandinavischen Länder folgen der Philosophie, dass sich die höchst individuellen Bedürfnisse nicht in ein enges Raster pressen lassen. Auch in der Heimpflege ist viel mehr Zeit für individuelle Betreuung. Skandinavische Heime stellen dreimal so viel Personal zur Verfügung wie Deutsche.
Hinter diesem Konzept steht ein anderes Sozialstaatsverständnis als in Deutschland. Kritiker führen regelmäßig an, dass eine kostenlose Pflege in Deutschland nicht finanzierbar sei. Außerdem sind die Steuern in skandinavischen Ländern im Schnitt höher als in Deutschland. Allerdings belegen wissenschaftliche Untersuchungen, dass langfristige Investitionen in ein gutes öffentliches Pflegesystem die Sozialkassen entlasten.
Angehörige, die unentgeltlich pflegen, kosten dem Staat nichts. Dies ist ein Irrglaube. Der Volkswirtschaft gehen dadurch sehr viele gut ausgebildete Arbeitskräfte verloren. Gerade in Zeiten von Fachkräftemangel kann sich das keine Gesellschaft mehr leisten. Gleichzeitig entstehen dort, wo Pflege als öffentliches Gut betrachtet wird, gut bezahlte und qualifizierte Arbeitsplätze. In den skandinavischen Ländern agieren Pflegekräfte, die in der Regel einen Bachelor-Abschluss haben, mit Ärzten auf Augenhöhe.
Die Gesundheits- und Pflegebranche ist mit 5,7 Millionen Menschen der größte Beschäftigungsgeber in Deutschland. Allerdings wurde sie seit Jahren als Experimentierfeld für den Niedriglohnsektor missbraucht – mit fatalen Folgen.
Deutschland könnte, zumindest in Grundzügen, dem skandinavischen Weg folgen. Das hieße, anzuerkennen, dass die Pflege nicht in erster Linie den Angehörigen überlassen werden darf, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe ist und dementsprechend behandelt werden muss. Für diesen Schritt bräuchte es Mut und politischen Willen. Wir müssen aus humanen und volkswirtschaftlichen Gründen dringend einen Weg aus der Pflegefalle finden.
Hermann Lappus, Vorsitzender des Seniorenbeirates Bad Tölz-Wolfratshausen